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[–] luciferofastora@feddit.org 8 points 6 days ago (3 children)

Im Nachspiel der Anschläge von 11.09.2001 wurde eine Variante des Trolley Problems in Form entführter Flugzeuge diskutiert. Das deutsche Luftischerheitsgesetzt erhielt 2005 einen Passus, dass in solchen Fällen die Streitkräfte den Flieger abschießen dürfen, wenn dadurch mehr Leben gerettet werden und keine andere Möglichkeit mehr bestehe. Das BVerfG hat dann 2006 beschlossen, dass diese Ermächtigung nicht rechtens sei:

Der Staat dürfe eine Mehrheit seiner Bürger nicht dadurch schützen, dass er eine Minderheit - hier die Besatzung und die Passagiere eines Flugzeugs - vorsätzlich töte. Eine Abwägung Leben gegen Leben nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite betroffen seien, sei unzulässig. Der Staat dürfe Menschen nicht deswegen töten, weil es weniger seien, als er durch ihre Tötung zu retten hoffe.

Quelle: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 - 1 BvR 357/05 -, Rn. 1-156, https://www.bverfg.de/e/rs20060215_1bvr035705

Somit würde ich behaupten, das Thema wurde zumindest im Gerichtssaal und im Kontext der aktiven Tötung schon besprochen. Zumindest scheint das BVerfG der Ansicht, dass Töten schlimmer sei als Sterbenlassen, auch wenn das Ergebnis dasselbe ist. Ob das auch für die passive Priorisierung von Leben gilt, weiß ich nicht.

Dass die Praxis vom rechtlichen oder moralischen Ideal abweichen muss, wo die Realität diesem in die Quere kommt, ist aber klar. Zuteilung von Ressourcen in Engpässen (sei das ein Mangel an Budget, medizinischem Material und Personal, Lebensmitteln oder was auch immer) ist zwangsläufig unfair.

Historisch war das insbesondere bei Bauern in der Vormoderne ein häufiges Problem, dass eine schlechte Ernte für Nahrungsknappheit sorgte, und sie entsprechend rationieren mussten. Damit nicht die nächste Ernte noch schlechter wird, wurden diejenigen bevorzugt, die nun mal für die Nahrungsbeschaffung zuständig waren.

Das ist heute für viele ein unangenehmer Gedanke. Moderne Industrie ist weniger von der persönlichen Leistungsfähigkeit abhängig, da fällt das weniger ins Gewicht. Die Gleichheit, die wir anstreben, ist ein Luxus den uns die Technologie ermöglichen sollte.

Da wo er aber nicht umsetzbar ist, stimme ich dir völlig zu: Wir sollten diese Problematik zumindest konfrontieren.

[–] trollercoaster@sh.itjust.works 5 points 6 days ago (1 children)

Wir sollten diese Problematik zumindest konfrontieren.

Was dabei rauskommt, wenn die breite Masse diese Problematik konfrontiert, sieht man an dem glücklicherweise kürzlich wieder außer Kraft gesetzten Triagegesetz. Da werden dann allerlei Befindlichkeiten in das Problem hineingeschwurbelt, die eine objektive und dem kurzen verfügbaren Zeitrahmen angemessene Entscheidung unmöglich machen, oder sogar die objektiv am wenigsten schlimme Entscheidung verbieten. Leider wurde das Gesetz nicht wegen seiner tödlichen Unsinnigkeit, (es hat faktisch Ärzte dazu gezwungen, mehr Leute sterben zu lassen, als sterben müssten, wenn sie frei entscheiden dürften) sondern nur wegen fehlender Zuständigkeit des Bundes gekippt.

Es gibt einfach Dinge, die dürfen nicht gesetzlich geregelt sein, um den Handelnden einen Spielraum zu lassen, im Rahmen ihres Gewissens und ihrer Pflichten in einem Dilemma, in dem es nur verschieden schlechte Optionen gibt, die am wenigsten schlimme davon auszuwählen.

Leider hat sich unsere Gesellschaft in eine Richtung entwickelt, in der immer Weniger bereit sind, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen, deswegen gibt es immer mehr und immer absurdere Forderungen nach 100%iger Rechtssicherheit in den unmöglichsten Zusammenhängen.

Wer in einem Bereich tätig ist, der Verantwortung für Menschenleben beinhaltet, muss nun mal damit leben, mit jeder Entscheidung mit einem Bein im Knast zu stehen. Wer dem nicht gewachsen ist, ist vielleicht für eine solche Tätigkeit nicht geeignet.

[–] luciferofastora@feddit.org 3 points 5 days ago

Da hast du völlig recht. Ich glaube da schwingt aber auch das wachsende Problem mit, dass Leute Experten nicht vertrauen. Jeder Schwurbler, der was von Impfstoffen oder Erdformen daherschwafelt von denen er keine Ahnung hat ist ein Symptom eines Bildungsmangels, nicht zwangsläufig als Mangel des eigenen Wissens, sondern auch der Einschätzung des Wissens und der Glaubwürdigkeit anderer.

Ich bin kein Mediziner und kein Astronom. Ich hab die ganzen historischren Texte nie selbst übersetzt und keine Materialfunde verglichen. Ich hab viel Wissen nicht selbst in annähernd der Tiefe wie die Leute denen ich vertraue, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln.

Klar gibt's auch Scharlatane oder Irrtümer, aber wenn das bekannt wird, passe ich halt mein Verständnis an statt die Wissenschaft insgesamt anzuzweifeln.

Laien sollten keine Fachentscheidungen diktieren. Die Schwierigkeit mit der breiten Masse ist also, dass sie sich genau das anmaßen, statt zusammen den Experten zu vertrauen, dass der Arzt sein bestes tut.

[–] rbn@sopuli.xyz 4 points 6 days ago* (last edited 5 days ago)

Danke für den Beitrag und die beiden interessanten und - wie ich finde sehr - sehr passenden Analogien! Insbesondere das 9/11-Thema hatte ich noch gar nicht auf dem Schirm und finde das auch ziemlich befremdlich.

Säße ich selbst in einem aussichtslos gekaperten Verkehrsmittel, hätte ich Verständnis, wenn man mich abschließt. Nicht, weil ich sterben möchte. Aber wenn ich sowieso sterbe, muss ich nicht noch unnötig weitere Menschen mit in den Tod reißen. Egal wie unschuldig ich bin.

Auch beim Trolley-Problem wäre für mich die Entscheidung klar. Wenn ich diesen blöden Zug nicht nicht anders zum Stehen bekomme, muss ich als unbeteiligter Dritter eben eine Person opfern, um die anderen zu retten. Eigentlich auch dann, wenn man befangen ist und die eine Person z.B. der eigene Partner oder die eigene Partnerin ist. Aber das übersteigt glaube ich das Level an Objektivität, was man einem fühlenden Menschen abverlangen darf.

[–] Kissaki@feddit.org 1 points 5 days ago (2 children)

Ein aktives Handeln (töten) ist etwas grundlegend anderes als priorisieren und verweigern.

[–] Cacaocow@feddit.org 2 points 5 days ago (1 children)

Du hast gerade das Trolley Problem beschrieben.

[–] Kissaki@feddit.org 1 points 5 days ago (1 children)

Laut/Entsprechend dem vorigen Kommentar hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, wie zu handeln ist. Jedenfalls nicht mit dem "Umstellen der Weiche".

[–] Cacaocow@feddit.org 2 points 5 days ago* (last edited 5 days ago) (1 children)

Dann können ja jetzt alle Ethiker nach Hause gehen, weil das Bundesverfassungsgericht das Trolleyproblem gelöst hat

[–] Kissaki@feddit.org 1 points 5 days ago (1 children)

Ethiker sind doch nicht nur dem Bundesverfassungsgericht zu einer Entscheidung dienlich, und auch nicht nur in dieser Frage.

[–] Cacaocow@feddit.org 2 points 5 days ago

Das ist doch gar nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass diese Aussage "Ein aktives Handeln (töten) ist etwas grundlegend anderes als priorisieren und verweigern." keine allgemeingültigkeit besitzt. Und auch eine Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht ist keine Absolution, sondern spiegelt die Auffassung der Richter und den Zeitgeist wider

[–] luciferofastora@feddit.org 1 points 5 days ago

Eine Entscheidung, nichts zu tun, ist ebenso eine Entscheidung. Auch das nicht-Handeln hat Folgen, und wer bewusst oder fahrlässig nicht handelt, trägt auch einen Teil der Verantwortung.