this post was submitted on 13 Nov 2025
42 points (95.7% liked)

DACH - Deutschsprachige Community für Deutschland, Österreich, Schweiz

4398 readers
448 users here now

Das Sammelbecken auf feddit.org für alle Deutschsprechenden aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg und die zwei Belgier. Außerdem natürlich alle anderen deutschprechenden Länderteile der Welt.

Für länderspezifische Themen könnt ihr euch in folgenden Communities austauschen:

___

Aus gegebenem Anlass werden Posts zum Thema Palästina / Israel hier auf Dach gelöscht. Dasselbe gilt zurzeit für Wahlumfragen al´a Sonntagsumfrage.
___

Einsteigertipps für Neue gibt es hier.
___

Aus gegebenem Anlass: Bitte Titel von Posts nur sinnerweiternd und nicht sinnentstellend verändern. Eigene Meinungen gehören in den Superkommentar oder noch besser in einen eigenen Kommentar darunter.
___

Eine ausführliche Sidebar mit den Serverregeln usw. findet ihr auf der Startseite von feddit.org

___

founded 1 year ago
MODERATORS
you are viewing a single comment's thread
view the rest of the comments
[–] rbn@sopuli.xyz 6 points 6 days ago* (last edited 6 days ago) (29 children)

So unsympathisch ich Herrn Streek auch finde und so unmenschlich der Vorschlag auf den ersten Blick auch klingen mag, finde ich das durchaus ein wichtiges Thema, das vielleicht nicht so umgesetzt werden sollte, aber zumindest mehr Aufmerksamkeit und öffentlichen Diskurs verdient hat.

Angekommen unser gesamtes Gesundheitsbudget in Deutschland von allen Beitragszahlenden zusammen beträgt 1000€, dann können wir auch nur 1000€ ausgeben. Wir kommen natürlich die Beiträge erhöhen, aber auch wenn wir es verzehnfachen ist und bleibt das Budget endlich.

Von einem endlichen Budget können aber leider nicht unendlich viele gesundheitliche Maßnahmen bezahlt werden. Also muss man abwägen, wo ein Euro eingesetztes Budget am meisten Mehrwert liefert.

Diesen Mehrwert objektiv zu quantifizieren ist im Gesundheitswesen nicht leicht, da an jeder Entscheidung eben Schicksale hängen. Ein Ansatz, der eben dies versucht sind sogenannte Qualitätskorrigierte Lebensjahre:

https://de.wikipedia.org/wiki/Qualit%C3%A4tskorrigiertes_Lebensjahr

Dieses Konzept bewertet eine Maßnahme danach...

  • wie sehr sie die Lebensqualität des Patienten voraussichtlich verbessern wird (z.B. "Patient hat 5/10 Schmerzen" statt "Patient hat 8/10 Schmerzen" oder auch im Extremfall "Patient kerngesund" statt "Patient tot")
  • wie lange diese Verbesserung anhalten wird (dies ist zum Beispiel gering, wenn die Behandlung regelmäßig wiederholt werden muss oder ein Patient auch mit der Maßnahme nur noch eine kurze Lebenserwartung hat)

Diese Kennzahl aus Qualitätszuwachs x Jahre kann ich dann ins Verhältnis setzen zu erwarteten Kosten, Zeitaufwand oder auch Leid (z.B. durch Nebenwirkungen) während der Behandlung, um verschiedene Maßnahmen bewerten und vergleichen zu können.

Ethisch und moralisch ist man bei solchen Überlegungen auf ganz dünnem Eis und ganz nah dran an Triage, Euthanasie und Co., aber solange niemand eine Lösung findet, wie man mit begrenzten Ressourcen immer sofort, ohne Wartezeiten alle auch nur minimal hilfreichen Maßnahmen für alle Patienten ermöglichen kann, wird man wohl oder übel irgendwie Prioritäten setzen müssen.

Und das ist auch kein neues Thema. Das passiert alles schon längst (z.B. bei der Vergabe von Spenderorganen). Nur eben ohne große Aufmerksamkeit und schlimmstenfalls nach umgerechten Kriterien. Und zumindest mir ist eine ehrliche Debatte deutlich lieber als wegschauen.

[–] luciferofastora@feddit.org 8 points 5 days ago (10 children)

Im Nachspiel der Anschläge von 11.09.2001 wurde eine Variante des Trolley Problems in Form entführter Flugzeuge diskutiert. Das deutsche Luftischerheitsgesetzt erhielt 2005 einen Passus, dass in solchen Fällen die Streitkräfte den Flieger abschießen dürfen, wenn dadurch mehr Leben gerettet werden und keine andere Möglichkeit mehr bestehe. Das BVerfG hat dann 2006 beschlossen, dass diese Ermächtigung nicht rechtens sei:

Der Staat dürfe eine Mehrheit seiner Bürger nicht dadurch schützen, dass er eine Minderheit - hier die Besatzung und die Passagiere eines Flugzeugs - vorsätzlich töte. Eine Abwägung Leben gegen Leben nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite betroffen seien, sei unzulässig. Der Staat dürfe Menschen nicht deswegen töten, weil es weniger seien, als er durch ihre Tötung zu retten hoffe.

Quelle: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 - 1 BvR 357/05 -, Rn. 1-156, https://www.bverfg.de/e/rs20060215_1bvr035705

Somit würde ich behaupten, das Thema wurde zumindest im Gerichtssaal und im Kontext der aktiven Tötung schon besprochen. Zumindest scheint das BVerfG der Ansicht, dass Töten schlimmer sei als Sterbenlassen, auch wenn das Ergebnis dasselbe ist. Ob das auch für die passive Priorisierung von Leben gilt, weiß ich nicht.

Dass die Praxis vom rechtlichen oder moralischen Ideal abweichen muss, wo die Realität diesem in die Quere kommt, ist aber klar. Zuteilung von Ressourcen in Engpässen (sei das ein Mangel an Budget, medizinischem Material und Personal, Lebensmitteln oder was auch immer) ist zwangsläufig unfair.

Historisch war das insbesondere bei Bauern in der Vormoderne ein häufiges Problem, dass eine schlechte Ernte für Nahrungsknappheit sorgte, und sie entsprechend rationieren mussten. Damit nicht die nächste Ernte noch schlechter wird, wurden diejenigen bevorzugt, die nun mal für die Nahrungsbeschaffung zuständig waren.

Das ist heute für viele ein unangenehmer Gedanke. Moderne Industrie ist weniger von der persönlichen Leistungsfähigkeit abhängig, da fällt das weniger ins Gewicht. Die Gleichheit, die wir anstreben, ist ein Luxus den uns die Technologie ermöglichen sollte.

Da wo er aber nicht umsetzbar ist, stimme ich dir völlig zu: Wir sollten diese Problematik zumindest konfrontieren.

[–] Kissaki@feddit.org 1 points 4 days ago (6 children)

Ein aktives Handeln (töten) ist etwas grundlegend anderes als priorisieren und verweigern.

[–] Cacaocow@feddit.org 2 points 4 days ago (1 children)

Du hast gerade das Trolley Problem beschrieben.

[–] Kissaki@feddit.org 1 points 4 days ago (1 children)

Laut/Entsprechend dem vorigen Kommentar hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, wie zu handeln ist. Jedenfalls nicht mit dem "Umstellen der Weiche".

[–] Cacaocow@feddit.org 2 points 4 days ago* (last edited 4 days ago) (1 children)

Dann können ja jetzt alle Ethiker nach Hause gehen, weil das Bundesverfassungsgericht das Trolleyproblem gelöst hat

[–] Kissaki@feddit.org 1 points 4 days ago (1 children)

Ethiker sind doch nicht nur dem Bundesverfassungsgericht zu einer Entscheidung dienlich, und auch nicht nur in dieser Frage.

[–] Cacaocow@feddit.org 2 points 4 days ago

Das ist doch gar nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass diese Aussage "Ein aktives Handeln (töten) ist etwas grundlegend anderes als priorisieren und verweigern." keine allgemeingültigkeit besitzt. Und auch eine Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht ist keine Absolution, sondern spiegelt die Auffassung der Richter und den Zeitgeist wider

load more comments (4 replies)
load more comments (7 replies)
load more comments (25 replies)